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REVISITING
SKOPJE

DIGITALER ESSAY
von Alexander Špatov


REVISITING SKOPJE

DIGITALER ESSAY
von Alexander Špatov

 

Wenn ich an Skopje denke, fallen mir zuerst wahnsinnige Zahnschmerzen ein. Gemeinsam mit Freunden hatte ich mich zum Taksirat 2012 aufgemacht, aber wir wurden an der Grenze aufgehalten und mussten, kaum im Hotel angekommen, gleich weiter zum Festival. Auf dem Rückweg von der Veranstaltungshalle holten wir uns am 24-Stunden-Imbiss des Hauptbahnhofs jeder einen „Megaburger“ (mit beispiellosen drei riesigen Burger-Patties anstelle des üblichen einen). Ich riss beim Abbeißen dermaßen den Mund auf, dass sich schon nach einer Stunde mein Weisheitszahn entzündete. An Schlaf war nicht zu denken. Als es zu dämmern begann, verließ ich das Hotel und machte mich auf die Suche nach einer Apotheke, um mir ein Schmerzmittel zu kaufen.    

So früh am Morgen hatte an diesem winterlichen Sonntag noch nichts geöffnet, auf den Straßen war nirgendwo ein Mensch zu sehen, der mir hätte den Weg weisen können, und so erlief ich mir in den folgenden drei Stunden einen gewaltigen Vorsprung hinsichtlich der Sehenswürdigkeiten Skopjes, zumindest was die Gegend nahe des Vardar betraf – meiner einzigen Orientierungshilfe in dieser Stadt, die ich zum ersten Mal besuchte. Gegen neun öffneten die ersten Geschäfte. Ich weiß noch, dass ich mir eine Flasche Wasser kaufte, der Zahn aber schon dermaßen schmerzte, dass ich nicht einmal mehr den Mund aufbekam, um zu trinken. Und so schien es mir wie ein kleines Weihnachtswunder, als ich plötzlich auf der anderen Seite der Steinbrücke neben einer Kirche eine geöffnete Apotheke entdeckte.

Die Apothekerin sagte, sie habe in Bulgarien Pharmazie studiert, sie verstand mich also problemlos. Ich schüttete Aulin in meine Flasche und trank irgendwie davon. Die Schmerzen ließen sofort nach. Als ich mich umsah blieb mein Blick an einer Tafel mit dem Namen der Kirche hängen und mir fiel ein, dass ich zu Ostern auf Facebook ein Video über das wundersame Leuchten der Heiligenscheine aller ihrer Heiligen gesehen hatte. Als ich die St.-Dimitӑr-Kirche betrat, war gerade Sonntagsmesse. Außer mir gab es niemanden in der Kirche, der die „alte Neuigkeit“ zu den leuchtenden Heiligenscheinen der ansonsten extrem vernachlässigten Fresken studierte. Die Messe wurde in Kirchenslawisch gehalten und sie lief im Großen und Ganzen ab wie in Bulgarien. Doch dann begann die Lesung aus dem Evangelium. Im reinsten literarischen Mazedonisch.

Ich habe nicht vor, auf den Streit zur bulgarischen und mazedonischen Sprache einzugehen, das ist das Feld der Diplomatie. Ich werde nur das Offensichtliche bekennen – dem an die bulgarische Sprache gewöhnten Ohr klingt alles auf Mazedonisch äußerst komisch. Selbst ein so ernstes Buch wie die Bibel. Dass es umgekehrt genauso ist, scheint mir zum ersten Mal beim Besuch der St.-Dimitӑr-Kirche bewusst geworden zu sein. Das Evangelium im literarischen Bulgarisch hätte einfach nicht mehr richtig geklungen (obwohl die Bewohner von Skopje ein gutes Jahrhundert zuvor im Streit mit den Griechophilen höchstselbst dafür gekämpft hatten). Es hätte sich für alle unsinnig und unseriös angehört, wenn man von mir einmal absah. Dem ans Mazedonische gewöhnten Ohr klingt alles auf Bulgarisch genauso ungeheuer komisch.

Übrigens brachte mein Vater mir als kleiner Junge die Bruchrechnung mit der folgenden Aufgabe bei: Er ließ mich die Vorfahren meiner Großmütter und Großväter aufzählen und forderte mich auf zu berechnen, zu wieviel Prozent ich eigentlich mazedonisch bin. Das Ergebnis – die Eltern meines Großvaters väterlicherseits (Kostursko) und die Mutter meiner Großmutter mütterlicherseits (Resen). Ein Viertel plus ein Achtel. Oder 25 % + 12,5 %, also insgesamt 37,5 %.

Somit ist völlig logisch, dass ich keinen Moment zögerte, als sich 2019 die Möglichkeit ergab, mich um ein Schriftstellerstipendium für Nordmazedonien zu bewerben. Ich wollte diese 37,5 % wahrhaftiger werden lassen, sie in mir spüren, ich wollte wenigstens ein kleines Stück tiefer in die mazedonische Sprache vordringen, und nicht zuletzt wollte ich versuchen, die, meinem Sofia am nächsten liegende Hauptstadt, Skopje zu erleben.

Als ich ankam herrschte eine so unsägliche Hitze, dass es mir schon beim Nase Rausstecken die Sachen an den Leib klebte. Ich ging also nur zum Einkaufen hinaus, die restliche Zeit schaute ich mazedonische Fernsehsendungen. Ich versuchte hinter die Logik des hiesigen Alphabetes und der Schrift zu steigen (irgendwann gewöhnt man sich auch an das Fehlen des Buchstabens ӑ, selbst wenn es sich um Wörter wie tvrd oder zvrst handelt, die ohne jeden Vokal auszukommen haben), ich schaute online die Serie Prespa, der es zunehmend gelang mich zu erheitern, also nicht mehr nur wegen der Sprache. Gewiss, es dauerte eine Weile, ehe ich begriff, dass das Wort vreden im Mazedonischen wertvoll bedeutet und nicht wie bei uns in Bulgarien schädlich, doch dann schien mir das eine der treffendsten Metaphern für alle Streits zwischen Bulgarien und Nordmazedonien zu sein.

Einer der ersten Bewohner Skopjes, mit dem ich mich bei einem Bier bekannt machte, war Duško Krӑstevski – Übersetzer fast aller neuer bulgarischer Autoren. Womit wir auch schon bei den Diskussionen wären, denn genau genommen, so erklärte er mir, sei ein Mensch, der Lyrik übersetze, kein pre-vodač, also Über-setzer, sondern ein pre-pejuvač – ein Über-sänger. Es gehe also nicht darum, die Texte in die andere Sprache zu setzen, sondern sie mit einer neuen Stimme hinüber zu singen, so jedenfalls versuchte ich mir dieses Übersingen aus dem Bulgarischen ins Mazedonische zu erklären. Eine elegante Art, auf die die Welt der Literatur vor der Welt der Hardline-Diplomatie flüchtet. Das Skopsko Pivo lief bei uns beiden sehr geschmeidig.

Mit einem forschen Spaziergang gegen Abend hakte ich die wichtigsten Sehenswürdigkeiten nahe des Vardar sowie das sogenannte Antike Disneyland ab, die ich schon an jenem Wintersonntag mit lähmenden Zahnschmerzen gesehen hatte. Dann begann das für mich wahre Vergnügen – das Aufblättern der Stadt. Als erstes erschloss ich mir Debar Maalo, das Viertel, in dem sich auch mein Gästezimmer befand. Mit seinen Kneipen und Bars erwies es sich als das wahre Herz der Stadt. 

Duško führte mich auch im Silbo ein – jede Stadt hat einen solchen Vierundzwanzigstunden-Ort, wo man rund um die Uhr einen Happen essen kann. In meinem Band #LiveFromSofia mit Sofioter Erzählungen habe ich mich recht ausführlich der Imbissstube-Sandwiches auf dem Slavejkov-Platz und ihren legendären überbackenen Prinzessinnen-Sandwiches gewidmet. Nun, die Debarmaaloer Sandwiches des Silbo konnten sich gewiss mit ihnen messen, während meines einmonatigen Aufenthaltes mag ich an die zwei Dutzend davon verdrückt haben. Übrigens befindet sich genau gegenüber dem Silbo jener Ort Skopjes, der am meisten von Sofia hat – der sogenannte Universalsaal, ein Geschenk Bulgariens nach dem großen Erdbeben von 1963. Dieses Gebäude ist eine Kopie des Sofioter Zirkus, der noch vor meiner Geburt abbrannte. (Sein Platz auf dem Salzmarkt in Sofia ist längst zugebaut, so hat der Zirkus immerhin eine Spur hinterlassen. In einer anderen Stadt und einem anderen Land.)

Es dauerte nicht lange und ich erreichte den Kniževen Bulvar, also den Literarischen Boulevard. Auf der Buchmesse in Leipzig hatte ich die Schriftstellerin Frosina Parmakovska kennengelernt und wir hatten uns vor einer der Buchhandlungen des Boulevards verabredet. Frosina und ich setzten uns gemeinsam mit Petӑr Andonovski an einen der Tische vor der Buchhandlung und eine knappe Stunde später schien mir, als sei die Hälfte aller Schriftsteller und Verleger Nordmazedoniens an uns vorbeigelaufen, mindestens. Der Boulevard erwies sich als wahrhaft literarisch!

Von Petӑr erfuhr ich, dass sich das Grab des Griechen Sorbas in Skopje befindet. Er versprach, mich hinzuführen und an einem der letzten Tage meines Residenz-Aufenthaltes begaben wir uns tatsächlich zum städtischen Friedhof, wo nach dem letzten großen Erdbeben Grab an Grab und Gedenktafel an Gedenktafel gerückt waren. Ein Spaziergang über den Friedhof – kann es für eine Stadt eine bessere Gelegenheit geben, sich wahrhaftig vor einem aufzublättern? Man kann eine Stadt auf diese Art genauso erspüren wie durch den Besuch ihrer größten Touristenattraktionen.

Mit der Zeit wurde ich selbst zu einer Art Skopje-Stadtführer. Wer in Sofia, das ja nur drei Autostunden entfernt lag, nicht alles beschloss, mir einen Besuch abzustatten. Als erster kam ein Kollege, der unbedingt das Haus von Mutter Teresa sehen und sich vor ihr verbeugen wollte (Adrian hatte schon in jungen Jahren beschlossen, Katholik zu werden). Danach kam Daniel, ein junger Kanadier, den ich kurz zuvor in Sofia kennengelernt hatte, er bereiste die Welt und las aus jedem Land, das er bereiste, ein Buch. Für Bulgarien war seine Wahl auf die englischsprachige Ausgabe von #LiveFromSofia gefallen und er hatte sich wegen eines Autogramms bei mir gemeldet. Als ich ihm anschließend die besseren Sofioter Bars zeigte, hatten wir uns angefreundet. Er war schon einmal in Nordmazedonien gewesen, doch er wollte ein weiteres Mal hin. Ich nahm an, dass er sich ein Buch eines bekannten mazedonischen Autors ausgesucht hatte, etwa eins von Lidija Dimkovska oder Goce Smilevksi, doch wie sich herausstellte war es Spectator von Žarko Kujundžijski, dessen Verlag sich genau gegenüber von meinem Gästezimmer befand. Bei meiner Anreise hatte mich mein Gastgeber Vlado Jankovksi natürlich auch mit Žarko bekannt gemacht, der mir seinerseits ein Exemplar des Spectator auf Mazedonisch geschenkt hatte (meine erste eigene mazedonische Fibel). Ich organisierte für Daniel ein weiteres Autogramm.

Meine Freundin kam ebenfalls zu Besuch. Ich hatte im Hipster-Viertel Debar Maalo und in der Altstadt, der Stara Čaršija, bereits meine Lieblingsplätze, und nun konnte ich sie endlich jemandem zeigen. Am Freitag jener Woche kamen noch zwei Autos mit Freunden an, die sich vorgenommen hatten, gemeinsam mit uns die Nachtszene Skopjes kennenzulernen (und somit auch die verrückten Taxijungs). Am Ende des Abends führte nun ich sie im Silbo ein, was mir endgültig das Gefühl verlieh, ein einheimischer Guide zu sein.

Es wurde Zeit, mich im Rahmen meiner Schriftsteller-Residenz dem heimischen Publikum vorzustellen. Ich grübelte lange, wie ich das bewerkstelligen soll, schließlich handelten meine Erzählungen von Sofia und ich nahm an, dass dieses Thema in Skopje niemanden sonderlich interessieren würde. Doch dann kam mir folgende Idee: #LiveFromSofia begann mit einer einführenden Erzählung, in der an die hundert Dinge aufgeführt sind, die man in Sofia tagtäglich unternehmen kann, um die Stadt wahrhaftig zu erleben. Der Link zu diesem Text taucht im Internet immer wieder um den 17. September herum auf, dem Feiertag Sofias, an dem wir Sofioter auf unsere Stadt besonders stolz sind. Was sprach dagegen, etwas Ähnliches für Skopje zu schreiben? Schließlich fühlte ich mich nahezu einheimisch, ich gab ja sogar schon Freunden Stadtführungen und ein Residenz-Monat war wahrlich nicht wenig (so gern ich reise – ich hatte vor Skopje '2019 meiner Stadt noch nie so lange den Rücken gekehrt). Mit Hilfe meiner kleinen Joker Duško, Frosina und Petӑr entstand folgender Text, der bei meiner Veranstaltung in der Buchhandlung Antolog auf dem Literarischen Boulevard gelesen wurde und der meines Erachtens weiterhin aktuell ist:

Skopje erleben heißt:

Auf der Steinbrücke über den Vardar gehen,

vom nächtlichen Balkon zum neonfarben leuchtenden Kreuz auf dem Gipfel hochschauen,

am darauffolgenden Tag zu Fuß auf den Gipfel des Vodno steigen, sich mit einem Skopsko Radler belohnen und anschließend ein Selfie mit Skopje schießen (und dazu ein Contra-Selfie von den Türmen der Festung Kale aus),

den Schock über Skopje 2014 verarbeiten, besonders über die Flotte Alexander des Großen im Fluss, inklusive des anschließenden obligatorischen Streits über die neo-antike vs. die brutalistische Architektur,

mit einem Boot über den Matka-See fahren,

tagsüber durch die Altstadt Stara Čaršija schlendern,

gegen 9 Uhr abends ein Bar-Hopping durch Debar Maalo veranstalten und es bei der Mitternachtsdisko im Stadtpark ausklingen lassen,

sich vor dem Grab von Goce verbeugen, anschließend im Haus von Mutter Teresa und am Ende am Grab von Sorbas,

ein Basketball-Derby MZT - Rabotnički anschauen, 

für den FC Vardar schreien,

oder jedes Jahr für die Lieblingsbands beim Taksirat,

die um 5.17 Uhr eingefrorene Uhr vom Alten Bahnhof sehen,

zu einem Treffen auf dem Rekord-Platz oder dem Makedonia-Platz gehen,

Ostern in der St.-Kliment-Kirche feiern,

einen Sonntagsspaziergang zur St.-Panteleimon-Kirche unternehmen,

die goldenen Heiligenscheine der Heiligen in der St.-Dimitӑr-Kirche anschauen,

den Muezzins von den Stereo-Minaretten des Nordufers zuhören,

mit Inlineskates den Kai entlangfahren und mit dem Fahrrad überall entlang,

ein Buch vom Literarischen Boulevard kaufen (am besten bei Ili Ili oder Antolog),

sich eine morgendliche Fleckensuppe im Čamo genehmigen, Kebabs im Turist, ein Debarmaaloer Sandwich im Silbo, eine prickelnde Boza im Imbiss Apče, Krofni im Chrom und auf einen Drink ins Long Play schauen,

hier Freunde gefunden zu haben (nicht Bekannte) – selbst wenn es nur das ist, ist es viel.

Aus dem Bulgarischen von Ines Sebesta.

Alexander Špatov wurde 1985 in Sofia geboren. Er ist Absolvent des American College of Sofia und der Universität Sofia (Rechtswissenschaften). Seit 2019 ist er Doktorand und schreibt über die Theorie des Lesens (ebenfalls an der Universität Sofia). Zu seinen Veröffentlichungen zählen zwei Kurzgeschichtenbände: #LiveFromSofia (2014), der auch auf  Englisch vorliegt, und Том 2.0 (2015), ein aktualisierter Nachdruck seiner frühen Werke Бележки под линия (2005), Fußnotengeschichten (2008; deutsche Übersetzung von Ines Sebesta) und Календар с разкази (2011). 2005 gewann er den Preis für das beste Belletristik-Debüt des Jahres, 2015 folgte der Sofia-Preis für Literatur. 2020 gab Špatov die Anthologie Първите 20 heraus, eine Sammlung der besten bulgarischen Kurzgeschichten des neuen Jahrtausends. Derzeit ist Špatov Vorsitzender der Vereinigung kleiner urbaner Bibliotheken, u.a. Chitalnyata (eine kleine unabhängige Bibliothek im Stadtgarten von Sofia), deren Aufgabe es ist, das Lesen zu fördern. Außerdem organisiert die Vereinigung Kampagnen zur Unterstützung öffentlicher Bibliotheken und literarische Führungen.

Fotos von © Alexander Špatov
Foto "Skopje City Museum" © Diego Delso, delso.photo, License CC-BY-SA

Projektleitung: Barbara Anderlič

Design: Beri